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Die virtuelle Hauptversammlung – Rechte, Pflichten und Entscheidungskriterien

Fachbeiträge
Die virtuelle Hauptversammlung – Rechte, Pflichten und Entscheidungskriterien

Der Bundestag hat am 7. Juli 2022 mit breiter Mehrheit den Gesetzesentwurf der Regierungskoalition zur Einführung der virtuellen Hauptversammlung ohne physische Präsenz der Aktionäre verabschiedet. Somit wird die virtuelle Hauptversammlung, die bisher nur auf Grundlage der befristeten COVID-19 Gesetzgebung möglich war, zukünftig als unbefristete Option neben der Präsenzhauptversammlung im Aktiengesetz festgeschrieben. Die Neuregelung gilt nicht nur für Aktiengesellschaften, sondern auch für Kommanditgesellschaften auf Aktien, die Societates Europaeae (SE) und Genossenschaften.

Die Regierungskoalition geht davon aus, dass die virtuelle Hauptversammlung von der Praxis in den vergangenen beiden Jahren gut angenommen worden ist. Sie hofft auf höhere Aktionärspräsenz in Hauptversammlungen und auf signifikante Kostensenkung. Gleichzeitig wurden die Aktionärsrechte im Vergleich zu der COVID-19-Gesetzgebung und dem Referentenentwurf des Bundesjustizministeriums erweitert. und an die Rechte der Aktionäre ihren Rechten in Präsenz-Hauptversammlung angeglichen. Vorstand und Aufsichtsrat haben hierdurch eine weitere Option zur Abhaltung von Hauptversammlungen erhalten und müssen nun die Vor- und Nachteile abwägen. Dieser Beitrag soll eine erste Orientierung hierzu geben.

1. Die virtuelle Hauptversammlung 2.0


a) Satzungsregelung

Die virtuelle Hauptversammlung ist zwar nicht der gesetzliche Regelfall, wird aber gegenüber der Präsenz-Hauptversammlung als gleichwertig angesehen.  Voraussetzung für die Abhaltung einer virtuellen Hauptversammlung ist eine entsprechende Satzungsgrundlage, weswegen die Satzungen von Aktiengesellschaften im Bedarfsfall anzupassen sind. Die Satzung kann die Durchführung der virtuellen Hauptversammlung für den Zeitraum von längstens fünf Jahren entweder vorschreiben oder die Durchführung in das Ermessen des Vorstands stellen. Letzteres ist anzuraten, um im Einzelfall in Präsenz auf besondere Sachlagen reagieren und Rechtssicherheit gewährleisten zu können. Auch in diesem Jahr besteht ohne Satzungsgrundlage noch die Möglichkeit, eine virtuelle Hauptversammlung abzuhalten. Der Vorstand kann dies mit Zustimmung des Aufsichtsrats auf Grundlage einer Übergangsregelung beschließen. 

b) Der Ablauf der virtuellen Hauptversammlung nach der Gesetzesneufassung im Vergleich zur COVID-19-Gesetzgebung

Die Besonderheiten im Ablauf einer virtuellen Hauptversammlung liegen naturgemäß in der Übertragung der Versammlung mit Bild und Ton sowie in der Ausübung der Aktionärsrechte mittels „elektronischer Kommunikation“. Das meint in der Praxis meist die Ausübung der Rechte über eine spezielle Videokonferenz- und Abstimmungsplattform, auf die über einen gesicherten Zugang mit dem Browser zugegriffen werden kann. Die Ausübung der Rechte meint das Stimmrecht (Abstimmung oder die sog. elektronische Briefwahl), das Auskunftsrecht, das (Gegen-)Antrags- bzw. Wahlvorschlagsrecht sowie das Widerspruchsrecht zu Beschlüssen der Hauptversammlung.

Der Nutzen von virtuellen Versammlungen wird insbesondere darin gesehen, dass Aktionäre ihre Rechte bereits im Vorfeld der Versammlung ausüben können und somit nicht auf die Teilnahme angewiesen sind. Die COVID-19-Gesetzgebung beschränkte die Rechteausübung im Wesentlichen auf das Vorfeld der Versammlung. Die Ausübung von Aktionärsrechten trat daher hinter Bedenken bezüglich der Rechtssicherheit zurück. Bei der Gesetzesneufassung war die gesetzgeberische Intention hingegen, die Rechte der Aktionäre in der virtuellen Versammlung zu stärken. Das Gesetz gibt den Gesellschaften jedoch lediglich einen Rahmen vor und lässt ihnen bei der konkreten Ausgestaltung einen Entscheidungsspielraum. Dies gilt jedenfalls für die Vorverlagerung der Aktionärsrechte ebenso wie für die Ausgestaltung der elektronischen Kommunikation. Kein Gestaltungsspielraum besteht hingegen bei den zwingend zu gewährenden Aktionärsrechten.

c) Die einzelnen Rechte der Aktionäre im Überblick

Die Umsetzung der wichtigsten Aktionärsrechte in virtueller Form wird im folgenden überblicksweise dargestellt.

(1) Das Recht auf Stellungnahme

Das Recht auf Stellungnahme ist eine besondere Form der Aktionärskommunikation, die dem virtuellen Format vorbehalten bleibt. Hierbei können die Gesellschaften das Format vorgeben und Stellungnahmen per Textform als auch per Videoformat zulassen. Aktionäre sollen eine fundierte Entscheidungsbasis für die Ausübung ihres Abstimmungs- und Auskunftsrechts erhalten. Stellungnahmen müssen allen Aktionären spätestens vier Tage vor der Hauptversammlung zugänglich gemacht, jedoch nicht in der Hauptversammlung gezeigt oder verlesen werden.

(2) Anträge und Wahlvorschläge

Anträge nach § 126 AktG (Gegenanträge) können wie bei präsenten Hauptversammlungen grundsätzlich vor der Hauptversammlung gestellt werden. Künftig können die Aktionäre über diese Anträge bereits abstimmen, sobald die Gesellschaft die Anträge für alle Aktionäre zugänglich macht. Im Gegensatz zum Referentenentwurf und der COVID-19-Gesetzgebung sollen ausweislich der Regierungsbegründung Anträge auch spontan während der Versammlung gestellt werden können. Das umfasst sowohl Anträge zur Geschäftsordnung als auch Gegenanträge, Wahlvorschläge oder beispielsweise Anträge auf Einsetzung eines Sonderprüfers. Dies entspricht der Rechtslage bei Präsenz-Hauptversammlungen. Bei der virtuellen Hauptversammlung besteht jedoch das Risiko von Spontanmehrheiten. Der Anreiz zur Teilnahme bei der virtuellen Hauptversammlung sinkt, wenn Aktionäre ihre Stimme im Vorfeld der Versammlung abgegeben haben. Auf spontane Anträge können diese Aktionäre in Folge ihrer Abwesenheit nicht mehr reagieren. Das ist aus Sicht des Gesetzgebers hinzunehmen.

(3) Das Auskunftsrecht der Aktionäre

Als zentrales Kontrollinstrument der Aktionäre wurde das Auskunftsrecht im Vergleich zu dem Auskunftsrecht im Rahmen der COVID-19-Gesetzgebung und dem Referentenentwurf umgestaltet. Die Leitungsgremien haben bei der Frage, ob sie das Auskunftsrecht im Vorfeld der Versammlung zulassen, Gestaltungsspielraum. Sie können vorgeben, dass Fragen der Aktionäre bereits drei Tage vor der Hauptversammlung einzureichen sind. Der Vorstand hat dann zwei Tage Zeit die Fragen zu beantworten und muss die Antworten einen Tag vor der Versammlung den Aktionären zugänglich machen.

In der Folge kann der Vorstand die erneute Beantwortung der Frage in der Hauptversammlung verweigern. In der Hauptversammlung sind dann lediglich Nachfragen und Fragen zu tagesaktuellem Geschehen, das erst nach Ablauf der Frist zur Ausübung des Auskunftsrechts öffentlich bekannt geworden ist, möglich.

Die Ausübung des Fragerechts im Vorfeld der Abhaltung der Hauptversammlung führt zu einem höheren Vorab-Informationsbedürfnis der Aktionäre im Vergleich zur Präsenz-Hauptversammlung. Optiert der Vorstand für die Pflicht, vorab Fragen einzureichen, muss er den Vorstandsbericht bereits mindestens sieben Tage vor der Hauptversammlung auf der Homepage der Gesellschaft zugänglich machen.

Aus Sicht der Investor-Relations-Kommunikation liegt der Vorteil der Neuregelung darin, dass der Vorstand mehr Zeit bekommt, um auf die Fragen zu antworten. In der Hauptversammlung zugeschaltete Aktionäre dürfen in diesem Fall nur noch Nachfragen und neue Fragen zu später aufgekommenen Sachverhalten stellen, neue Fragen, die auch schon vorab hätten gestellt werden können, sind nicht mehr zulässig. Das ermöglicht der Gesellschaft, die virtuelle Versammlung zu straffen.

Ob die Frage bereits beantwortet wurde oder sich in einer Nuance von der bereits gestellten Frage unterscheidet und daher als Nachfrage einzustufen ist, ist jedoch eine schwierige Abgrenzung, weswegen die auf diese Weise gestellten Fragen in der Praxis im Zweifel erneut beantwortet werden.

Entscheidet sich der Vorstand hingegen, keine Fragen vorab zuzulassen, können die Fragen wie in der Präsenz-Hauptversammlung in der Versammlung selbst gestellt werden.

(4) Das Rederecht

Die Covid-19-Gesetzgebung hat auf das Rederecht in Echtzeitkommunikation und damit auf die Generaldebatte als Mindestvoraussetzung für die Abhaltung einer virtuellen Hauptversammlung verzichtet. Auch der Referentenentwurf, der diesem Gesetz vorausging, sah ein Rederecht nicht vor. Die Neufassung des Gesetzes übernimmt das Rederecht der Generaldebatte aus der Präsenz-Hauptversammlungen. Auskunftsverlangen, Anträge und Wahlvorschläge können Bestandteil der Generaldebatte sein.

Welche Plattform für die Videokommunikation gewählt wird, liegt im Ermessen des Vorstands. Um den reibungslosen Ablauf der Versammlung sicherzustellen, kann sich die Gesellschaft in der Einberufung vorbehalten, die Funktionsfähigkeit der Videokommunikation zwischen Aktionär und Gesellschaft in der Versammlung und vor dem Redebeitrag zu überprüfen und den Redebeitrag zurückzuweisen, sofern die Funktionsfähigkeit nicht sichergestellt ist.

d) Rechtsschutz der Aktionäre gegen rechtswidrige Beschlüsse

Aktionäre können gegen Beschlüsse Anfechtungsklage erheben, wenn sie anfechtungsbefugt sind. Die Anfechtungsbefugnis setzt unter anderem voraus, dass Aktionäre Widerspruch gegen den Beschluss in der Versammlung zur Niederschrift des Versammlungsleiters erklären. Hierbei bestehen keine Besonderheiten im Vergleich zu Präsenz-Hauptversammlungen. Die Ausübung des Widerspruchsrechts setzt die Teilnahme an der virtuellen Hauptversammlung voraus. Aktionäre, die vorab ihre Stimme abgegeben, aber nicht an der Hauptversammlung teilgenommen haben, können daher keinen Widerspruch erklären.

Der Gesetzgeber stellt zudem sicher, dass die Anfechtung nicht darauf gestützt werden kann, dass eine Verletzung der Rechte der Aktionäre durch eine technische Störung verursacht wurde. Das gilt vorbehaltlich einer grob fahrlässigen bzw. vorsätzlichen Herbeiführung der technischen Störung Seitens der Gesellschaft. Hierdurch wird den Gesellschaften das Risiko technischer Störungen weitgehend abgenommen und auf die Aktionäre verlagert.

2. Vor- und Nachteile der virtuellen Hauptversammlung im Überblick

Die virtuelle Hauptversammlung unterscheidet sich erheblich von ihrem Pendant aus der Zeit der COVID-19-Sondergesetzgebung. Der Gesetzgeber überträgt die Präsenz-Hauptversammlung in das virtuelle Format, verzichtet hierbei allerdings auf die von Unternehmen viel gelobten Effizienzsteigerungen, indem er umfangreicher Rede-, Auskunfts- und Antragsrechte während der Versammlung gewährt.

Hierbei nimmt das Gesetz rechtliche Unschärfen in Kauf, die bis zur höchstrichterlichen Klärung vereinzelt ein Risiko darstellen. Aus diesem Grund werden nur wenige Unternehmen die Option zur verpflichtenden Vorabeinreichung von Fragen wählen. Im Streitfall scheint es risikoreich, bei anfechtungsrelevanten Grundsatzbeschlüssen die Beantwortung von Fragen zu verweigern. Die damit verbundenen Folgeverpflichtungen wie die Vorabveröffentlichung des Vorstandsberichts und die Pflicht zur schriftlichen Beantwortung der Fragen vor der Hauptversammlung sind zudem aufwendig.

Dennoch bietet die Neuregelung die Chance, einen größeren Aktionärskreis zu erreichen und durch das Recht auf Stellungnahme und Vorabeinreichung von Fragen die Investor-Relations-Kommunikation in der Generaldebatte zu verbessern.

Selbstverständlich sind auch die Kosten in den Blick zu nehmen. Besonders für Aktiengesellschaften mit durchschnittlicher Aktionärspräsenz bei Hauptversammlungen lohnt sich die Durchführung einer virtuellen Hauptversammlung in finanzieller Hinsicht nicht, da die Kosten für die notwendige Technik noch zu hoch sind. So werden Kostenvorteile in der Regel derzeit bei mehr als 150 Teilnehmern zu erzielen sein. Es ist zu erwarten, dass die Kosten im Laufe der kommenden Jahre sinken werden, weswegen die Abwägung in Bezug auf die Kosten jährlich neu vorgenommen werden sollte.

In der öffentlichen Wahrnehmung ist die Bedeutung von ESG nicht zu unterschätzen. Hier bietet die virtuelle Hauptversammlung eine Chance, weil An- und Abreise der Teilnehmer entfallen. Aktiengesellschaften werden sich mit der Frage von Aktionären auseinandersetzen müssen, warum das CO2-Einsparpotential nicht genutzt wurde. Die CO2-Emissionen für das Streaming der Hauptversammlung dürften weitaus geringer sein.

Ferner ist zu berücksichtigen, dass auch die Präsenz-Hauptversammlung mit Elementen angereichert werden kann, die darauf abzielen die Aktionäre einzubinden. So ist es beispielsweise möglich, ihnen ein Vorab-Stimmrecht durch Briefwahl oder Weisung an den Stimmrechtsvertreter zu gewähren.

Dies zeigt, dass eine generelle Empfehlung weder für die Durchführung einer virtuellen noch dagegen ausgesprochen werden kann. Vielmehr bedarf es der individuellen Abwägung anhand des Gesellschaftsinteresses und des Interesses der Aktionäre, die die oben genannten Überlegungen zu den Möglichkeiten der Verbesserung der Investor-Relations-Kommunikation, der Kosten sowie der ESG-Positionierung miteinschließt.

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